41. Kapitel

 

Als Nell die Augen aufschlug, tanzten farbige Flecken durch ihr Gesichtsfeld. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, ihr Körper wie zerschlagen. Mühsam die Augen offenhaltend, versuchte sie sich umzuschauen. Die Zimmerdecke über ihr war dunkel, nur leise gesprenkelt vom Mondlicht; das durch ein hohes, offenes Fenster hereinfiel. Sie holte tief Luft und drehte den Kopf nach rechts. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie, und sie stöhnte laut auf. Woher kamen diese Schmerzen? Sie waren in ihrem Kopf, in ihrer Brust, in ihren Armen ... überall!

»Ah, du bist wach!«

Ein glatzköpfiger Mann trat zu ihr und beugte sich über sie. Er hatte tiefliegende Augen und eine Hakennase, und seine Miene drückte, was sie höchst ungewöhnlich fand, Besorgnis aus. War er um sie besorgt? Und wo war sie?

»Wo bin ich?«, stieß sie hervor. Ihr Mund war ganz trocken, und sie hatte Mühe zu sprechen. Er ignorierte ihre Frage. Undeutlich vor sich hin murmelnd trat er um sie herum und verschwand aus ihrem Gesichtsfeld.

Lag sie auf einem Bett? Sie versuchte herauszufinden, worauf sie lag, fühlte aber nur eine kalte, harte Oberfläche. Versuchsweise hob sie die Finger, streifte ihr Bein. Ihr nacktes Bein ... War sie etwa noch immer nackt?

Undeutliche Erinnerungen stiegen in ihr auf. Mikhail und sie in dem Sessel; dann waren Vampire gekommen und hatten sie gepackt. Etwas hatte ihren Kopf getroffen, vielleicht hatte sie sich aber auch irgendwo angeschlagen. Dann nichts mehr. O Gott, wo war Mikhail? Das Bild einer Wiese tauchte jäh vor ihrem inneren Auge auf, grünes Gras, Füße ... Was?

Diesmal versuchte sie nach links zu schauen.

»Mikhail!«

Mikhail lag auf einem Tisch. Zwei Schläuche steckten in seinen Unterarmvenen. Einer davon führte zu einem Apparat, der andere hing in eine Schüssel. Eine rote Flüssigkeit tropfte aus dem Schlauch in die Schüssel.

»Mikhail!«, rief Nell erneut, aber er rührte sich nicht. Er war bleich, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Sie brachten ihn um! Sie wollten ihn umbringen! Plötzlich verschwand Mikhail, und sie sah an seiner Stelle den Mond und ein paar vereinzelte Sterne am Nachthimmel blinken. Nell schüttelte sich, panisch versuchte sie die unwillkommenen Visionen abzuschütteln, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Und da war er wieder: Mikhail.

Sein Gesicht war vollkommen zerschunden, und auch auf seiner Brust waren üble Blutergüsse. Und die sind verschwunden!

Der Glatzkopf betrat erneut das Zimmer, diesmal in Begleitung von Ramil. Hilflos musste Nell zuschauen, wie sie an ihr vorbeigingen und vor Mikhails reglosem Körper stehen blieben.

»Es muss das Blut seiner Mutter sein! Er ist ein Mensch, und sein Vater war ein Mensch, aber in den Adern seiner Mutter floss das Blut der Auserwählten. Sein Blut verträgt sich mit dem unseren! Und so kommt es, dass das Blut, das ich ihm gegeben habe, das tut, was es bei uns tut: Es heilt ihn von innen heraus!«

Außer sich vor Aufregung ging der Kahlköpfige auf die andere Seite des Tischs. »Zu schade, dass er keine Frau ist, aber seine weiblichen Nachkommen können sich mit Vampiren paaren und Kinder mit ihnen zeugen!«

Ramil beugte sich vor und riss zornig den Schlauch, der mit dem Apparat verbunden war, aus Mikhails Arm. Dieser stöhnte vor Schmerzen, was die Vampire überhaupt nicht beachteten.

»Und was dann, Wissenschaftler?«, zischte Ramil. »Noch mehr von diesen Missgeburten, diesen sogenannten Auserwählten? Nein! Vergiss ihn. Er soll sterben.«

Ramil wandte sich abrupt ab und richtete seine schwarzen Augen auf Nell. »Diese hier sollte dich interessieren! Erzwinge die Wandlung oder töte sie, mir ist's egal!« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Zimmer.

»Nun, du hast den Anführer gehört«, grinste der kahlköpfige Vampir. Er zog am Tisch, sodass sie nun dicht neben Mikhail lag. Dann nahm er den Schlauch an sich, den Ramil aus Mikhails Arm gerissen hatte. Er beugte sich über ihren rechten Arm. »Die Nadel ist etwas stumpf. Könnte ein bisschen wehtun.«

Nell tastete nach Mikhails Hand und umklammerte sie. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Arm. Der grausame Vampir stieß die stumpfe Nadel so tief in ihr Fleisch, dass sie glaubte, sie müsse am anderen Ende wieder herauskommen. Sie biss die Zähne zusammen, unterdrückte jeden Laut, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie litt. Aber das schien ihn nur zu amüsieren, und er lachte. Dann zog er versuchsweise an dem Schlauch, der nun an ihrem Arm hing. Er nahm das andere Ende in den Mund und begann zu saugen. Ihr Blut schoss in den durchsichtigen Schlauch, die stumpfe Nadel zerrte an ihrem Fleisch, während der Vampir heftig saugte. Als sie es nicht mehr länger aushielt, begann sie zu schreien.

In diesem Moment brach im Erdgeschoss unter ihnen die Hölle los.

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